(taz vom 2. April 2009)
Es ist kurz vor Mittag in der Vineta-Grundschule im Wedding. Über den Gang flitzen kleine Jungs in Anzughosen und Mädchen mit großen Haarschleifen in den sorgsam hochgesteckten Haaren. „Ich habe eine Fünf im Diktat“, ruft ein kleiner Kerl hoch erfreut. Es folgt ein Satz auf Russisch. Die Kinder lachen, dann holt ihre Lehrerin sie zurück ins Klassenzimmer. Die Tür schließt sich, und auf dem Gang ist es wieder so ruhig, wie man es an einem Samstag in einer Schule eigentlich erwartet.
Die Russische Samstagsschule im Brunnenviertel existiert seit 2003. Sieben Klassen werden hier zurzeit angeboten, die von 150 Kindern zwischen 4 und 13 Jahren besucht werden. Alle haben mindestens ein Elternteil, das aus Russland oder einer der ehemaligen Sowjetrepubliken stammt; ihre Familien kamen als Spätaussiedler nach Deutschland. Sie wurden teilweise hier, teilweise in der Heimat ihrer Eltern geboren und sollen nun neben dem regulären Unterricht unter der Woche am Samstag die russische Sprache und etwas über die Kultur lernen. Schließlich haben fast alle noch Verwandte in Russland, mit denen sie sich verständigen wollen, oder die Eltern legen Wert auf die eben auch russisch geprägte Herkunft.
In der 4. Klasse wird fleißig gearbeitet. Die Lehrerin Ludmilla Pracht spricht kaum Deutsch, aber Roman kann übersetzen. „Wir spielen ein Spiel, um die russische Grammatik zu üben.“ Es kursieren Papierstreifen, bedruckt mit kyrillischen Buchstaben. „Russisch ist nicht so einfach, es gibt ziemlich viele Regeln“, erklärt Roman. „Einige Buchstaben sind zum Beispiel nur dafür da, zu zeigen, ob man andere Buchstaben hart oder weich aussprechen muss.“ Der Elfjährige wurde im sibirischen Omsk geboren. Seit drei Jahren kommt er jeden Samstag aus Reinickendorf in die Russische Schule.
„Wir sind die einzige Einrichtung dieser Art in Berlin“, sagt Schulleiterin Olga Delwa. Die Lehrerin für Mathe und Physik kam 1998 aus Kasachstan nach Berlin. Sie ist hat die Schule mit ins Leben gerufen, als sie für ihren Sohn einen Ort suchte, an dem er seine Muttersprache richtig lernen kann. Durch Mundpropaganda stieg die Nachfrage beständig, sodass 2007 sogar eine Filiale der Schule in Spandau eröffnet wurde, die sich jedoch auf die Förderung des Deutschen bei Kita- und Grundschulkindern spezialisiert hat.
Nur 5 der 14 Kinder in der 4. Klasse sind in Deutschland geboren. Die meisten sprechen zu Hause mit ihren Eltern und Geschwistern russisch, dennoch ist ihr Deutsch weitgehend akzentfrei. Erstaunlich erwachsen erklären sie unisono, wie wichtig es sei, Russisch nicht nur sprechen, sondern auch schreiben und die Grammatik beherrschen zu können. „Natürlich finde ich es manchmal unfair, wenn meine deutschen Freundinnen am Samstagvormittag freihaben, und wir müssen tüfteln“, sagt Alexandra.
Aber meist mache ihr die Schule Spaß, und da sei das schon in Ordnung. Obwohl es im Gegensatz zur normalen Schule nur im Sommer Ferien gebe. Nicole ergänzt: „Die Samstagsschule beginnt dafür auch erst um zehn Uhr und dauert nur vier Stunden.“ Außerdem werde viel spielerisch erlernt, weshalb sie es weniger als Unterricht denn als Freizeit wahrnehme. „Wir lesen viel, etwa Märchen und russische Autoren. Das ist viel besser als in der deutschen Schule.“
Wie viel Stoff den Kindern in der kurzen Zeit vermittelt wird, scheinen sie gar nicht zu bemerken. „Wir haben acht Lehrerinnen an der Schule“, erklärt Schulleiterin Delwa. Alle sind ausgebildete Pädagoginnen aus Russland, Kasachstan und der Ukraine. Da ihre Diplome in Deutschland nicht anerkannt werden und die Damen alle jenseits der 50 sind und Schwierigkeiten mit der deutschen Sprache haben, bietet ihnen die Russische Schule die einzige Möglichkeit, ihrem alten Beruf zumindest am Wochenende nachzugehen. „Hier erarbeiten sie für ihre Klassen den Lehrplan selbst. Ziel ist es, dass die Kinder am Ende jedes Schuljahres auf dem gleichen Niveau sind wie gleichaltrige Schüler in Russland.“ Ein ehrgeiziger Plan, wenn man bedenkt, dass die Schule nicht nur auf vier Stunden in der Woche beschränkt ist, sondern die Klassen auch äußert heterogen zusammengesetzt sind. „Wir haben Kinder, die sprechen zu Hause nur russisch, andere deutsch. Und wieder andere kommen aus Tschetschenien, sprechen tschetschenisch und sollen nun Russisch lernen, damit sie sich mit den Verwandten unterhalten können“, sagt Delwa.
Träger der Schule ist die Berliner Gesellschaft für Förderung interkultureller Bildung und Erziehung. Finanziert wird sie durch Spenden. Pro Kind sollen 20 bis 25 Euro pro Monat gezahlt werden. „Aber wer mehrere Kinder an der Schule hat und das nicht finanzieren kann, darf auch weniger geben“, meint Delwa. Zusätzlich gebe es eine kleine Unterstützung vom Quartiersmanagement Brunnenviertel- Brunnenstraße, damit man den Lehrerinnen wenigstens eine geringe Aufwandsentschädigung für das Lehrmaterial zahlen könne. Die Nutzung der Räume in der Vineta-Grundschule sowie im angrenzenden Olof-Palme-Jugendzentrum ist gratis. Stattfinden darf der Unterricht jedoch nicht in den Klassenzimmern, da dort persönliche Sachen der Grundschüler liegen. „Wir nutzen die offiziellen Aufenthaltsräume, die jeden Samstag von den Lehrerinnen in Klassenzimmer verwandelt werden“, berichtet die Schulleiterin.
Elena Lackmann kam vor fünf Jahren mit ihrem Mann und ihren vier Kindern aus Moskau nach Berlin. Ihr jüngster Sohn, Georg, ist sieben Jahre alt und geht seit zwei Jahren auf die Russische Schule. Verschämt drückt er sich an seine Mama und versucht, sich hinter ihren Beinen zu verstecken. Man mag nicht vermuten, dass dieser Knirps schon drei Sprachen fließen sprechen kann. „Er geht auf die bilinguale Metropolitan School in Mitte“, berichtet seine Mutter stolz. „Dort lernt er auch gleich Englisch.“ Russisch habe sie zunächst mit ihm zu Hause geübt, schließlich sei sie selbst mit dieser Sprache aufgewachsen und wolle sie an ihre Kinder weitergeben. Da ihr Sohn sprachbegabt sei, habe sie aber bald beschlossen, ihn ordentlich unterrichten zu lassen. „Georg ist wie ein Schwamm. Er mag es zu lernen“, sagt sie. „Später soll noch Chinesisch dazukommen.“ Da grinst Georg und sagt: „Aber Deutsch ist meine Lieblingssprache.“
Neben der Sprache stehen noch russische Musik und Lebenskunde auf dem Lehrplan. Für die fünfte und sechste Klasse kommen Geschichte, Geografie und Literatur dazu. Darüber hinaus wird auch der intensive Sprachunterricht mit kulturellen Einsprengseln aufzulockern versucht. Bis sie 13 Jahre alt sind, müssen die Kinder das nötige Rüstzeug zusammenhaben – wer danach weiter Russisch lernen möchte, muss sich eine Oberschule mit entsprechendem Angebot suchen. „Ab der siebten Klasse haben die Jugendlichen für ihre deutschen Schulen so viel zu tun, dass ihnen Unterricht am Samstag nicht mehr zugemutet werden kann“, so Delwa.
In der 4. Klasse ist man mittlerweile zum Lernen der Verkehrszeichen übergegangen. „Die sehen zwar aus wie in Deutschland, haben aber ganz andere Namen“, erklärt Alexandra. In ihrem Heft hat sie die wichtigsten Zeichen aufgemalt und in ordentlichem Kyrillisch die Bedeutung daneben geschrieben. Wie ihren Klassenkameraden macht die Schrift ihr mittlerweile keine Probleme mehr. Und über eine zusätzliche russische Fünf im Diktat freuen sich auch die Eltern. Sie wissen, dass in Russland Fünf die beste Note ist.