Juliane Schader

Stadtlust

Journalist vom Juni 2013

Eine Menge Deutsche müssen ziemlich unglücklich sein mit ihrem Wohnort. Anders lässt sich kaum erklären, dass fast drei Viertel von ihnen in Städten leben, aber am Zeitungskiosk vor allem Magazine zu finden sind, die das Landleben preisen. Sie heißen Landidee, Liebes Land, Mein schönes Land oder Landspiegel. Die Landlust als Mutter dieser Zeitschriften kam zuletzt auf unglaubliche 1,1 Millionen Exemplare. So hoch lag die verkaufte Auflage im ersten Quartal 2013 – mehr als Spiegel oder Stern.

Doch während Landlust-Leser noch eifrig dabei sind, Waldmeister zu trocknen und sich selbst ein Gewächshaus zu zimmern (wie in Ausgabe Mai/Juni empfohlen), macht sich eine Gegenbewegung zum Thema „Stadt“ bereit. Im Januar ist die Zeitschrift Stadtaspekte erstmals an die Kioske gekommen. Die Auflage von 8000 Exemplaren ist noch vergleichsweise gering; halbjährlich wird das Magazin in Zukunft erscheinen. Schon seit Jahren wächst die Zahl der Blogs, die sich mit urbanen Themen beschäftigen. Stadtaspekte hat aus dieser Szene heraus nun den Sprung an den Kiosk gewagt.

Christina Riesenweber arbeitet als Lektorin bei einem Wissenschaftsverlag, Sebastian Schlüter promoviert in Kultur- und Sozialgeografie. Beide räumen gerade die letzten Reste des Abendbrots vom Tisch, als um halb acht in Schlüters Berliner Wohnung das Interview beginnt. Noch gibt es keine Redaktionsräume, und noch verdienen alle zehn Redakteure ihr Geld in anderen Jobs, so lassen sich Zeit und Ort erklären. Die Wohnung liegt in einem unsanierten 50er-Jahre-Block mit Ofenheizung und Blick auf eine sozialistische Plattenbausiedlung. Direkt vor der Tür rauscht die S-Bahn vorbei. Großstädtischer geht nicht.

Im vergangenen Jahr sind Riesenweber und Schlüter einem Aufruf zweier Berliner Geographiestudenten gefolgt, die Mitstreiter für ein Zeitschriftenprojekt suchten. Kein Stadtmagazin sollte es werden, wo Konzerte, Partys und das Kinoprogramm angekündigt werden, sondern ein Magazin für Stadtthemen. Dass das ein großer Unterschied ist, beweist schon ein kurzer Blick in das entstandene Heft: Wie lebt es sich in der schrumpfenden einstigen Autostadt Detroit? Wie reist es sich im Frauenabteil eines Pendlerzugs in Mumbai? Und was haben Zimmerpflanzen mit der Errungenschaft der Fernwärme-Heizung zu tun? Die Artikel spielen in allen Ecken der Welt und beleuchten die verschiedensten Aspekte, die eine Stadt so mit sich bringt.

Mit viel Weißraum und seinem modernem Layout erinnert das Heft ein wenig an Brand eins. Trotzdem sagt Riesenweber: „Wir wollen kein Hochglanzmagazin produzieren, sondern eine Plattform bieten, auf der Menschen, die sich mit dem Thema auskennen, publizieren können.“ Zur Redaktion gehören nicht nur Fachleute wie Stadtplaner, Soziologen und Architekten, sondern auch erfahrene Medienmacher. Sie sollen helfen, die Brücke von der Fachliteratur zur breiten Öffentlichkeit zu schlagen.

Bislang finden Stadt-Themen bei den etablierten Medien vorwiegend in den Lokalteilen statt: In Frankfurt diskutiert man, wie sich auf dem zentralen Goetheplatz neue Bäume mit Wurzelbedürfnis mit der Tiefgarage im Untergrund vertragen. In Berlin wird gegen Eigentumswohnungen auf dem ehemaligen Todesstreifen an der Mauer gekämpft, und in der Mainzer Neustadt pflanzen urbane Gärtner Kartoffeln. In die Magazine und überregionalen Blätter schaffen es nur wenige Themen – entweder, weil sie wie der Streit um Stuttgart 21 eskalieren, oder wegen eines Kuriositätsfaktors, wenn etwa auf dem Dach einer alten Malzfabrik in Berlin Tempelhof Fische gezüchtet werden sollen. Eine regelmäßige Berichterstattung gibt es aber nicht. Welches Ressort sollte dafür auch verantwortlich sein?

Dabei haben die Städte wieder an Anziehungskraft gewonnen. Nachdem die Deutschen noch in den 90er Jahren lieber ins Grüne zogen, hat sich der Trend zuletzt umgedreht: Laut einer Prognose der Vereinten Nationen sollen 2020 über 78 Prozent der Menschen in Deutschland in Städten leben – derzeit sind es noch vier Prozent weniger. Reurbanisierung nennen das die Fachleute; das „Re“ unterscheidet diese zweite Welle der Verstädterung von der Urbanisierung im 19. Jahrhundert.

Parallel sorgen einige gesellschaftliche Strömungen dafür, dass sich die Menschen stärker mit ihrem direkten Umfeld auseinandersetzen. Welche das sind, das kann Jakob F. Schmid gut erklären. Der Hamburger ist Stadtplaner und betreibt seit zwei Jahren das Blog Stadtnachacht.de, welches sich mit Städten in der Nacht beschäftigt: Wie sich Clubkultur und Nachbarn mit Schlafbedürfnis vertragen, welche Straßenbeleuchtung sinnvoll ist, und wann und wie man am besten einen Supermarkt beliefert, der mitten in Wohngebiet liegt.

In seinem Blog sammelt Schmid dazu wissenschaftliche Erkenntnisse und Beispiele aus der Praxis, womit er zu einer Vielzahl von Stadtexperten gehört, die Urbanität im Internet zum Thema machen. „Die Idee dafür kam mir, als ich mich beruflich mit der Situation der Livemusikclubs in St. Pauli beschäftigte“, erzählt er. „Auf den ersten Blick scheint deren Bestand eine kulturpolitische Frage zu sein. Doch eigentlich geht es um Stadtentwicklung und die planerischen Voraussetzungen für ein attraktives, kulturell vielfältiges und sozial inklusives Nachtleben.“

Damit hat Schmid täglich vor Augen, wie sich Anwohner verstärkt einmischen in alles, was in ihrer Nachbarschaft passiert. Verantwortlich dafür sei das veränderte Demokratieverständnis und der Wunsch nach Partizipation – nicht nur alle vier Jahre zur Wahl, meint er. Das zeige sich bei den Protesten gegen den Stuttgarter Tiefbahnhof im Großen ebenso wie bei der Bürgerinitiative für einen Zebrasteifen im Kleinen. „Zudem werden mit dem demografischen Wandel, den Veränderungen in der Erwerbswelt und der Ausdifferenzierung der Lebensstile höhere und spezifischere Anforderungen an die lokale Infrastruktur gestellt“, erklärt Schmid. Wenn Frauen nicht mehr in ihrem Vorstadthaus die Kinder hüten und die Großeltern nicht mehr im Nachbardorf wohnen, wird die Kita um die Ecke unverzichtbar, heißt das übersetzt. „Alles zusammen sorgt dafür, dass das Thema Stadt zunehmend in den Fokus rückt und in der breiten Öffentlichkeit diskutiert wird.“

Ein sonniger Nachmittag am Helmholtzplatz in Berlin Prenzlauer Berg. Wo einst Arbeiter und Künstler in abbruchreifen Wohnungen mit Außenklo lebten, sind heute hippe Cafés und Kinderläden. Die Mieten steigen, die Penner verschwinden und Parkplätze werden für Carsharing-Autos freigeräumt. Über die Klingelschilder hat jemand mit Schablone gesprayt: „Folgende Mitbürger werden zum Klassenkampf aufgerufen:“. Streetart, Gentrifizierung, neue Verkehrsstrategien, alles auf engstem Raum.

Hier arbeitet Hans-Hermann Albers. Eigentlich ist er Architekt. In seiner Freizeit schreibt er jedoch für das 2006 gegründete Blog urbanophil.net. Über 20 Autoren der unterschiedlichen Fachrichtungen beschäftigen sich dort mit urbanen Themen. „Das Blog bietet die Möglichkeit, über Stadtplanung, Stadtentwicklung, Architektur und urbane Kultur zu diskutieren und diese Themen aus der Wissenschaftsecke herauszuholen“, sagt Albers. „Unsere Zielgruppe sind nicht nur Experten, sondern alle, die sich für das Thema interessieren.“

Aktuell steht auf der Seite ein Film, in dem New Yorker versuchen, ihre Stadt mit drei Wörtern zu beschreiben. Eine Veranstaltungsreihe zum Thema „Wem gehört die Stadt“ wird angekündigt, ein Buch über Zwischennutzung rezensiert und eine Fotoserie eines Pariser Künstlers vorgestellt. Mittels Fotomontage zeigt er, wie der Sternenhimmel über Großstädten aussähe, wenn dieser nicht vor lauter Straßenbeleuchtung und Lichtreklamen kaum zu sehen wäre. „Wir betrachten Entwicklungen in der Stadt und setzen auf einen kritischen und analytischen Diskurs“, meint Albers. „Mit einem Wohlfühlmagazin wie Landlust haben wir nichts gemein.“

Mindestens 15.000 Seitenaufrufe verzeichnet urbanophil.net im Monat. Eine Refinanzierung durch Anzeigen gibt es nicht. Die Herausgabe einer gedruckten Zeitschrift würde zwar immer mal wieder diskutiert, erzählt Albers. Die Sorge, dass sich durch eine Professionalisierung auch der Charakter des Blogs verändert würde, hätte sie aber bislang davon abgehalten. „Derzeit bedeutet ein knappes Budget vor allem eine schlanke Struktur und freies Arbeiten.“

Bei den Stadtaspekten hat man sich bewusst anders entschieden: Die Zeitschrift soll sich am Kiosk behaupten; das funktioniert nur, wenn professionell gearbeitet wird. Trotzdem läuft derzeit noch einiges anders, als man es von großen Magazinen kennt. Ein Beispiel dafür ist der „Call for Papers“, mit dem die Arbeit an jeder neuen Ausgabe beginnt. Aus der Wissenschaft stammt die Idee, sich zu einem vorgegebenen Thema fertige Texte und Fotos zusenden zu lassen, und daraus auszuwählen. Ein Honorar gibt es selbst bei Abdruck nicht. Für jeden freien Journalisten ist dieses System ein Alptraum; bei Stadtaspekte funktioniert es trotzdem. „Natürlich ist es unser Ziel, Honorare zu zahlen“, meint Sebastian Schlüter. Aber derzeit gebe es einfach kein Geld, das zu verteilen wäre. Auch die Redakteure gehen bislang leer aus.

Deren Hauptaufgabe ist die Auswahl – sie nennen es Kuratieren – und das Redigieren der Texte. Letzteres ist besonders wichtig, weil einem „Call for Papers“ eben eher Wissenschaftler als Journalisten folgen. „Wir müssen die wissenschaftliche Schreibe aus den Texten herausholen“, erklärt Christina Riesenweber. Nicht bei allen Artikeln ist das im aktuellen Heft jedoch gelungen. Möchte sich Stadtaspekte in Zukunft eine größere Leserschaft erschließen, müssen die Texte noch anschaulicher und die Herangehensweise an Themen weniger akademisch werden.

Die andere Baustelle sind die Anzeigen. Die Anschubfinanzierung für Druck und Vertrieb der ersten Ausgabe erfolgte über eine Crowdfunding-Kampagne bei startnext.de. Dank dieses Spendenaufrufs wurden 5000 Euro gesammelt, zu denen noch die 7,90 Euro pro Exemplar aus dem Kioskverkauf und ein bisschen Geld aus Anzeigen kommen. In der aktuellen Ausgabe hat die taz annonciert und die dérive, eine Zeitung für Stadtforschung aus Wien. „Wir haben uns erstmal dem Redaktionellen gewidmet. Doch nun müssen wir uns dringend um den Aufbau einer guten Anzeigenabteilung kümmern“, meint Schlüter. Es ist eine einfache Rechnung: Ohne Refinanzierung wird Stadtaspekte auf die Dauer nur als Liebhaberprojekt existieren können, das vielleicht seine interessierten Fachleser findet, aber am Kiosk untergeht.

Ähnlich ist es dem Urban Spacemag ergangen. 2008 wurde die Zeitschrift von Hamburger Stadtplanern ins Leben gerufen, um die große Lücke zwischen akademischem Fach- und Szenemazin für die Stadt zu schließen. Ohne Geld und via „Call for Papers“ wurden mittlerweile vier Ausgaben mit einer Auflage von zuletzt 1000 Stück an Fachbuchhandlungen verteilt und über das Netz verkauft. Das letzte Heft stammt vom Oktober 2011, das nächste soll wohl noch in diesem Jahr erscheinen. „Wenn es fertig ist, ist es fertig“, sagt Rudolf D. Klöckner, einer der Gründer.

Eigentlich arbeitet er derzeit für die Internationale Bauausstellung Hamburg – eine Tochtergesellschaft der Stadt, die damit beauftragt ist, Entwürfe für die Zukunft der Metropole zu erstellen. Nebenher betreibt er noch das Blog urbanshit.de, das sich mit Streetart und urbaner Kultur beschäftigt, und dann ist da noch das Urban Spacemag. Als es an den Start ging, habe es Gespräche über eine Zusammenarbeit mit einigen kleineren Verlagen gegeben, erzählt Klöckner. „Letztendlich haben wir uns doch dazu entschlossen, selbstbestimmt arbeiten zu können. Da wir alle unser Geld mit anderen Projekten verdienen, gibt es keinen ökonomischen Druck.“

Für die Macher mit festen Jobs außerhalb des Journalismus mag das eine Erleichterung sein. Für ihre Zeitschrift bedeutet es aber, dass sie sich wohl kaum bei einer größeren Leserschaft etablieren kann. Dabei ist das auch mit Nischenthemen und ohne großen Verlag im Rücken durchaus möglich, wie die Landlust aus dem Landwirtschaftsverlag Münster bewiesen hat. Manchmal haben die Kleinen den besseren Riecher für kommende Themen. Sie brauchen nur den Mut, die Marktlücke auch zu besetzen.