Tagesspiegel vom 27. Januar 2018
Es beginnt, wie so oft in Berlin, mit einer guten Idee. Die Stadt braucht mehr Wohnungen, günstige vor allem. Und der damals noch rot-schwarze Senat meint im Jahr 2014 einen Teil der Lösung gefunden zu haben: das sogenannte „Berliner Modell“. Bedeutet: Große Bauprojekte bekommen nur noch dann eine Genehmigung, wenn in einem Teil der Bauten Sozialwohnungen entstehen, ausreichend Kita- und Schulplätze. Und der Investor Straßen, Wege und Versorgungsleitungen bezahlt – kurz: die Infrastruktur.
Der Investor kann dann selbst entscheiden, ob er die Sozialwohnungen behalten und günstig vermieten oder sie zum Beispiel an eine städtische Wohnungsbaugesellschaft verkaufen will. Das Land Berlin gibt im Gegenzug günstige Kredite für den Neubau und subventioniert die Mieten. Als das Modell 2014 im Abgeordnetenhaus verabschiedet wird, ist die Quote für Sozialwohnungen noch vage mit 10 bis 33 Prozent formuliert. Seit April 2015 liegt der vorgeschriebene Anteil bei 25 Prozent, seit Beginn des vergangenen Jahres sogar bei 30 Prozent. Als Stichtag gilt die öffentliche Auslegung des Bebauungsplans des jeweiligen Projektes. Eigentlich. Denn schon da wird aus einer guten Idee eine rechtlich hochkomplexe Angelegenheit. Und aus dem vollmundigen Versprechen vom schnellen, günstigen Sozialwohnungsbau eine Regelung voller Ausnahmen. Denn „in begründeten Einzelfällen“ können die Quoten reduziert werden – oder ganz wegfallen. Und von diesen Einzelfällen gibt es offenbar einige.
Stadtentwicklungssenator war 2015 noch Andreas Geisel von der SPD, der heutige Innensenator. „Wir brauchen mehr bezahlbare Wohnungen, und das überall in der Stadt. Das ,Berliner Modell’ ist ein Instrument, dieses Ziel zu erreichen“, sagte er damals. Das „Berliner Modell“ trage zu Transparenz und Verlässlichkeit bei der Kalkulation von Bauprojekten bei. „Nicht zuletzt lassen sich damit die Lasten, die mit dem begrüßenswerten Wachstum unserer Stadt zu schultern sind, im Sinne der Fairness teilen.“ Heute äußert er sich auf Nachfragen dazu, wie das bei den einzelnen Bauprojekten gelaufen ist, nicht mehr so gern. Sein Sprecher lässt ausrichten, der Senator habe dazu bereits alles Notwendige gesagt.
In einer Antwort vom 7. Oktober 2015 auf eine parlamentarische Anfrage der Linken-Politikerin Katrin Lompscher, die heute in der rot-rot-grünen Koalition selbst Chefin der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung ist, werden 51 Bauvorhaben gelistet, bei denen „nach Kenntnis des Senats … das ,Berliner Modell’ … mit den im April 2015 modifizierten Regelungen angewendet“ wird. Sprich: mit 25 Prozent Sozialwohnungsbau.
Höchste Zeit mal nachzuschauen, was daraus geworden ist, und für eine Stichprobe beginnt man am besten bei den Projekten eines Investors, der Berlin geprägt hat, wie kaum ein anderer. Klaus Groth, 79 Jahre alt. Die Groth-Gruppe gestaltete das Tiergarten-Dreieck mit CDU-Parteizentrale, das Haus der Deutschen Wirtschaft an der Spree und ein komplettes Wohnviertel in Karow Nord. Nach eigenen Angaben rund 13 000 Wohnungen, 24 Büro- und Botschaftsgebäude, 4,5 Milliarden Euro Investitionsvolumen in den vergangenen 35 Jahren.
Die Groth-Gruppe ist beteiligt an zentralen Projekten in der Stadt. Darunter auch die Europacity, eines der größten Siedlungsprojekte Europas. Der Name der Groth-Gruppe steht auf Bauschildern am Mauerpark und an der Lehrter Straße nahe des Hauptbahnhofs, auf dem Areal der ehemaligen Kleingartenkolonie Oeynhausen und am Stadtrand in Lichterfelde Süd. Insgesamt plant und baut Groth in den kommenden Jahren mehr als 5200 Wohnungen. Das sind fast halb so viele wie im vergangenen Jahr in ganz Berlin fertiggestellt wurden.
Drei dieser vier Baustellen listet der Senat in Drucksache 17/17051 als „Berliner Modell“-Projekte. Demnach könnten allein dort rechnerisch knapp 1184 Wohnungen zu günstigen Konditionen an Berliner gehen, die sich die steigenden Mieten sonst nicht leisten können. Doch tatsächlich entstehen gerade einmal 919 und damit nur 80 Prozent der möglichen günstigen Wohnungen. Auch bei Grundschulplätzen und Grünflächen haben Land oder Bezirk immer wieder Kompromissen zugestimmt, die hinter den Ansprüchen des „Berliner Modells“ zurückbleiben oder auf Kosten des Landes ausgeglichen werden. Das geht aus Bebauungsplänen, städtebaulichen Verträgen und parlamentarischen Dokumenten hervor, die der Tagesspiegel eingesehen hat. Wie kann das sein?
Besuch beim Großprojekt im Mauerpark. Über den Kinderbauernhof schallt Geschrei. Eine Gruppe Kita-Kinder turnt über das Gelände und ein Hahn kräht, als seien hier nicht längst alle wach. Im Hintergrund flattert ein großes Plakat am Gerüst der bereits hochgezogenen Neubauten. „So Berlin“ steht darauf – es ist der Werbename der Groth Gruppe für ihr Neubauviertel mit 700 Wohnungen. Weitere Slogans lauten „So pulsierend“, „So lebendig“ oder auch „So spontan“. In der Broschüre stehen Sätze wie: „Für Kids gestaltet sich das Leben im ,So Berlin’ grün und bunt.“
Für Kids werden hier in den nächsten Jahren mehr Kitas, Schulen, Grünflächen und Freizeitangebote benötigt, wenn die 700 Wohnungen bezogen werden. Diese sollen gemäß „Berliner Modell“ Investoren entweder auf eigene Kosten bauen oder alternativ einen Festpreis etwa pro Grundschulplatz an das Land bezahlen.
Nachfrage bei der Groth-Gruppe. Die Antwort fällt deutlich aus. Das Berliner Modell gelte nicht: „Das Projekt Mauerpark unterliegt NICHT dem kooperativen Baulandmodell“, lässt sie über einen Anwalt ausrichten.
Das ist insofern bemerkenswert, als die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung das anders dargestellt hat. Zweimal erklärte der Senat gegenüber dem Parlament, beim Projekt im Mauerpark werde das „Berliner Modell“ angewendet. Einmal in seiner Antwort auf eine parlamentarische Anfrage 2015, damals noch mit einer Sozialwohnungsquote von 25 Prozent. Und zuletzt im Februar 2017, allerdings plötzlich mit einer geringeren Quote von 15 Prozent. Selbst im Bebauungsplan ist noch vom „Berliner Modell“ die Rede. Wörtlich heißt es dort: „die Vorhabenträgerin (hat sich) im Durchführungsvertrag verpflichtet, auf ihre Kosten eine Kita im Plangebiet zu errichten“. Und zwar: „Im Rahmen des ,Berliner Modells’ der kooperativen Baulandentwicklung“.
Am Mauerpark wurde dementsprechend ein Bedarf von zusätzlichen 68 Grundschul- und Hortplätzen ermittelt. Das Modell veranschlagt 37 000 Euro pro Platz, also eine Investition von 2,5 Millionen Euro.
Doch aus zwei Gründen wurde daraus nichts. Anders als im Abgeordnetenhaus versichert, wird das „Berliner Modell“ hier nicht angewandt. Denn, wie die Stadtentwicklungsverwaltung nun auf Nachfrage schreibt, muss dem Projekt im Mauerpark der sogenannte „Vertrauensschutz eingeräumt werden“ – Gesetze können Verträge nicht rückwirkend ungültig machen. Im Fall des Mauerparks war ein erster städtebaulicher Vertrag bereits 2012 – zwei Jahre vor Einführung des „Berliner Modells“ – geschlossen worden. Warum der Senat das Parlament zweimal anders darüber informierte, konnte die Verwaltung bis zum Redaktionsschluss auch auf mehrfache Nachfrage hin nicht aufklären.
So erklärt sich die Zahl der Sozialwohnungen. Neue Schul- und Hortgebäude wären wohl ohnehin nicht gekommen. Denn im Bebauungsplan heißt es: „Die (…) Nachfrage nach Leistungen der sozialen und schulischen Infrastruktur kann in bestehenden Einrichtungen im Umfeld abgedeckt werden.“ Zusätzliche Bauten hätten Senat oder Bezirk selbst finanzieren müssen.
Ein ähnliches Problem stellt sich dem Senat auch auf dem Gelände der früheren Kleingartenkolonie Oeynhausen. Dort baut ebenfalls gerade die Groth-Gruppe. 973 Wohnungen sollen entstehen. Da die Bauplanung noch nicht abgeschlossen ist, könnte man die Anwendung des Modells vermuten. Sogar mit der seit 2017 geltenden Quote von 30 Prozent, also rund 290 Sozialwohnungen. Doch auch daraus wird nichts. Die Groth-Gruppe kann sich hier auf ein seit dem Jahr 1958 bestehendes und 2016 gerichtlich bestätigtes Baurecht berufen. Allerdings dürfte das „Berliner Modell“ doch angewendet werden, wenn der Bebauungsplan nach dem Stichtag vom April 2015 noch mal geändert wird. Genau das geschieht gerade. Laut öffentlich zugänglichen Daten der Senatsverwaltung ist er derzeit in Bearbeitung.
Die Groth-Gruppe erklärt: „Das Projekt Maximilians Quartier unterliegt nicht dem Berliner Modell. Für die Erhöhung der Bruttogeschoßfläche haben wir freiwillig analog des ,Berliner Modells’ 65 geförderte Wohnungen sowie eine Kita für 80 Kinder und 28 neue Grundschulplätze vereinbart.“
Das ist Teil eines Kompromisses. Denn mit dem alten Baurecht hätte die Groth-Gruppe die komplette Kleingartenkolonie abreißen lassen und mit dreistöckigen Häusern bebauen können. 2016 einigte man sich mit dem Bezirk darauf, die Hälfte der Lauben zu erhalten, dafür auf der anderen Hälfte der Fläche eine Bebauung mit bis zu acht Stockwerken zu erlauben. Statt der ursprünglich geplanten 700 finden nun fast 1000 Wohnungen Platz. Nur sind die „analog zum Berliner Modell“ ausgehandelten 65 Sozialwohnungen deutlich weniger als die vom Modell als Zielmarke für Projekte dieser Größe angegebenen 290.
Einig sind sich hingegen alle, dass das „Berliner Modell“ bei einem dritten Projekt der Groth-Gruppe gilt. Nur konsequent angewandt wird es nicht.
1030 Wohnungen entstehen derzeit auf dem langgestreckten Grundstück entlang der Lehrter Straße westlich der Zufahrt zum Hauptbahnhof. Männer in Warnwesten laufen durch Rohbauten, ein Bagger schiebt sich mühsam durch Schlamm. Im Internet hingegen ist alles schon fertig. Ein animierter Spaziergang führt entlang großer Rasenflächen vorbei an bunten Fassaden, Bäumen und Bänken. An Fahrradständer ist ebenso gedacht wie an Geschäfte. Nur für Kinder gibt es hier nicht viel.
75 Kita-Plätze, 89 Grundschulplätze und zusätzliche Spielflächen werden laut „Berliner Modell“ durch den Wohnungsbau hier nötig. Doch die sollen nun außerhalb des Baugebiets auf öffentlichem Grund entstehen. Groth bezahlt dafür die vorgesehenen Pauschalen, so bleibt ihm auf der eigenen Fläche mehr Platz für Wohnungsbau. Diese Möglichkeit sieht das „Berliner Modell“ ausdrücklich vor, allerdings nur „neben dem Regelfall des Investoren-/Betreibermodells, bei dem der Projektträger die Plätze auf dem eigenen Grundstück zur Verfügung stellt“.
Obwohl kommunale Grundstücke knapp sind, hat sich der Bezirk Mitte auf diese Lösung eingelassen. „Die Kitaplätze werden im Einzugsbereich des Plangebietes durch die Erweiterung bestehender Kitaeinrichtungen umgesetzt“, heißt es aus dem Bezirksamt. Dadurch werde ein rentabler Betrieb sichergestellt.
Am Beispiel Lehrter Straße lässt sich noch eine weitere Lücke im „Berliner Modell“ aufzeigen, die Investoren überall in der Stadt – völlig legal – regelmäßig ausnutzen. Dabei geht es um sogenannte Mikro-Apartments. 266 solcher möbliert zu vermietenden Mini-Wohnungen entstehen an der Lehrter Straße in einem 18-stöckigen Wohnturm. In ihren Unterlagen weist die Groth-Gruppe diese Apartments als „Studentenwohnungen“ aus. Als solche zählen sie nicht zur Gesamtzahl an Wohnungen, auf die das „Berliner Modell“ angewendet werden muss. Dadurch reduziert sich analog auch der Anteil der Sozialwohnungen, die errichtet werden müssen.
Die „Studentenwohnungen“ werden derzeit aber für bis zu 8500 Euro pro Quadratmeter verkauft, Annehmlichkeiten wie Fitnessraum und Concierge-Service inklusive. Vielleicht deshalb preist der Vermarkter Zabel Property sie am Telefon als ideal für Geschäftsleute, die nur unter der Woche in Berlin arbeiten.
Dem Senat ist das Phänomen bekannt, doch er findet nichts dabei. Aus der Senatsverwaltung heißt es dazu: „Auch wenn hier Spitzenpreise aufgerufen werden, ändert dies nichts an dem festgesetzten Nutzerkreis.“ Sebastian Bartels, stellvertretender Geschäftsführer des Berliner Mietervereins, sieht das anders: „Preise von bis zu 8500 Euro müssen sich refinanzieren. Für die breite Masse der Studenten dürften die Apartments daher viel zu teuer sein.“ Und: „Wir brauchen dringend günstige Wohnungen für Studenten. Solche Luxusapartments lösen dieses Problem nicht.“
Rechnete man die Mikro-Apartments zur Gesamtsumme der Wohnungen dazu, läge der Anteil an Sozialwohnungen bei 15 Prozent – und damit zehn Prozentpunkte unter den im „Berliner Modell“ vorgeschriebenen 25 Prozent.
Sowohl im Mauerpark als auch an der Lehrter Straße hatten einige Anwohner Vorbehalte gegen die Projekte. Andere fürchteten gar eine zu große Nähe zwischen Politik und Investor. Denn Klaus Groth, bis heute Geschäftsführender Gesellschafter der Groth-Gruppe, verbindet mit der lokalen Politik eine lange Geschichte gegenseitiger Anerkennung. Sein Geschäft begann so richtig zu florieren, als die Mauer fiel und Experten davon ausgingen, dass Berlin bald mehr als zehn Millionen Einwohner haben würde. Die neue Hauptstadt brauchte dringend Wohnungen, Bürogebäude, Parteizentralen – und Groth konnte liefern.
Wie weit es der hanseatische Kaufmann in der Berliner Gesellschaft gebracht hatte, ließ sich an der Gästeliste zu seinem 60. Geburtstag ablesen, zu dem er 1998 ins Hotel Adlon lud. Berlins Regierender Bürgermeister Eberhard Diepgen (CDU) und CDU-Generalsekretär Peter Hintze kamen ebenso wie Brandenburgs damaliger Umweltminister Matthias Platzeck (SPD) und Verlegerin Friede Springer.
Insofern wurden einige Bürgerinitiativen auch misstrauisch, als Stadtentwicklungssenator Geisel sich direkt in den Fall Mauerpark einmischte und einem kritischen Bürgerbegehren die juristische Grundlage entzog.
Auf Bezirksebene bietet diese Form der direkten Demokratie Bürgern die Möglichkeit, sich in die Tagespolitik einzumischen. Einige Anwohner des Mauerparks wollten sich auf diesem Weg gegen das Bauvorhaben wehren, das sie als überdimensioniert empfanden. Die neuen Nachbarn hätten die vorhandenen Schulen und Kitas überfordert, so die Sorge der „Mauerpark-Allianz“. Zu dieser hatten sich bereits bestehende Organisationen wie die „Freunde des Mauerparks“, die „Stiftung Weltbürgerpark“ und Mitglieder der „Bürgerwerkstatt Mauerpark“ zusammengeschlossen. Jahrelang hatten diese auch untereinander über die Zukunft des Areals gestritten. Nun starteten sie gemeinsam das Bürgerbegehren.
Um Aussicht auf Erfolg zu haben, hätten knapp 7000 Unterschriften von Bewohnern aus Mitte genügt. Doch vier Wochen nachdem das Begehren beantragt worden war, verlagerte Geisel die Verantwortung für die Bauplanung zum Senat. Geisel stand unter Zeitdruck, denn die Allianz-Umweltstiftung hatte in den 90er Jahren die Anlage des Mauerparks mit umgerechnet 2,3 Millionen Euro gefördert. Verbunden war diese Förderung aber mit einer späteren Erweiterung des Parks. Schon 2012 war die Frist dafür abgelaufen, nun wurde die Stiftung unruhig und drohte damit, die Summe zurückzufordern.
Durch die Verlagerung der Verantwortung hatte sich das Bürgerbegehren erledigt. Für ein erfolgreiches Volksbegehren auf Landesebene hätten die Anwohner nun 170 000 gültige Unterschriften gebraucht. Weil eine berlinweite Mobilisierung gegen ein lokales Bauprojekt als aussichtslos gilt, haben die Anwohner das gar nicht erst gewagt.
Als Begründung für seine Entscheidung nannte Geisel die „außergewöhnliche stadtpolitische Bedeutung“ des Baugebiets, was laut Baugesetzbuch eine Verlagerung der Kompetenzen erlaubt. Allerdings ist nicht genau festlegt, was „außergewöhnlich“ konkret meint. Für Geisel waren das 700 Wohnungen. „Diese Dimension ist angesichts der steigenden Bevölkerungszahlen in Berlin von stadtweiter Bedeutung und kann nicht mehr nur von den unmittelbar angrenzenden Nachbarschaften entschieden werden“, erklärte er.
Der heutige Innensenator möchte sich zu den Vorgängen nicht weiter äußern. Sein Sprecher versichert aber, „dass es zu keinen Unregelmäßigkeiten gekommen ist“.
In Mitte war es der CDU-Politiker Carsten Spallek, der als Baustadtrat für die Planungen am Mauerpark verantwortlich war. Heute erklärt er, dass es zwar auch im Bezirk eine politische Mehrheit für das Bauprojekt in seiner jetzigen Umsetzung gegeben habe. Fügt aber auf Anfrage schriftlich hinzu: „Offenbar hat der Senat/zuständige Senator dies anders eingeschätzt und/oder den Erfolg eines/des angekündigten Bürgerentscheides, der für Vorhaben auf bezirklicher Ebene ein anderes Quorum vorsieht als auf Landesebene, als Risiko für das Vorhaben ausschließen wollen.“
Die Angst vor Widerstand in der Bevölkerung muss groß gewesen sein, denn auch die Groth-Gruppe bemühte sich, die Stimmung zu drehen und engagierte die PR-Agentur „Stöbe Kommunikation“. Die schickte auf dem Höhepunkt der Bebauungsdebatte einen Mitarbeiter zu den Lagebesprechungen der Mauerpark-Allianz, der sich, wie Mitglieder der Bürgerinitiative berichten, als freier Journalist ausgegeben haben soll. Die PR-Agentur lobte sich später auf ihrer Website selbst für den Einsatz: „Ziel unserer Arbeit war es hier mit multimedialen PR-Maßnahmen (…) den Rückhalt der Bebauungsgegner sowohl in der Presse als auch bei den Anwohnern zu schwächen, und so in der Öffentlichkeit die Grundlage dafür zu schaffen, dass trotz erfolgreichen Bürgerbegehrens gebaut werden kann, ohne dass es zu weiteren Störmanövern kommt.“
Die Eigenwerbung ist mittlerweile aus dem Netz verschwunden. Ein Screenshot liegt dem Tagesspiegel noch vor.
Versuche von Unternehmen, Einfluss auf die öffentliche Meinung zu nehmen, gibt es immer wieder. Viele PR-Firmen haben sich auf diese Art der „Krisenkommunikation“ spezialisiert. Selbst die landeseigene BSR engagierte auf dem Höhepunkt der Korruptionsaffäre um ihren damaligen Finanzchef eine Kanzlei, die offenbar die Stimmung drehen sollte. Den forschen Auftritt der Rechtsanwälte hatte das Landgericht 2010 als „ungewöhnlich und bemerkenswert“ sowie „in der Sache und im Stil völlig unangemessen“ bewertet.
Auch in der Lehrter Straße fühlt sich eine Bürgerinitiative von der Groth-Gruppe unter Druck gesetzt. Der Betroffenenrat wollte eine Dokumentation aus dem Jahr 2001 zeigen, die im Auftrag des RBB-Vorgängers Sender Freies Berlin produziert und ausgestrahlt worden war. Die Doku versucht, Verwicklungen zwischen Groth und der lokalen Politik nachzuzeichnen. Die Anwohner erhielten daraufhin Post von Groth: „Weder mir selbst noch den von mir geführten Unternehmen wurde eine rechtliche zu beanstandende Handlung nachgewiesen“, heißt es in dem Schreiben, das dem Tagesspiegel vorliegt. Von einer Aufführung des Films sei daher abzusehen, andernfalls könne es rechtliche Konsequenzen geben. Der Betroffenenrat scheute die Auseinandersetzung, sagte die Aktion ab. Laut RBB und den Autoren des Films liegt gegen die Doku jedoch kein gerichtliches Verbot vor.
Noch ein Besuch am Großprojekt Mauerpark. Die Unterhaltung der zwei Mütter, die ihre Kinderwagen über den Schwedter Steg schieben, stockt. Unter ihnen rumpelt gerade einer der alten Züge, die die S-Bahn in ihrer Not wieder aus dem Depot geholt hat, über die Gleise des Rings. Es folgt die S 8, die hier aus Pankow kommend Richtung Schönhauser Allee in die Kurve geht. Die Frauen laufen rasch weiter. Für ein Gespräch ist es zu laut.
Wenige Meter entfernt stehen die ersten, fast fertiggestellten Fassaden des Bauprojektes am Mauerpark. Sie schließen das Viertel nach Norden ab vom Gleisknotenpunkt zwischen Ringbahn und Nord-Süd-Trasse. Tagsüber wird hier eine Lärmbelastung von bis zu 70 Dezibel erreicht, hat ein Gutachten festgestellt. Das entspricht dem Krach eines Rasenmähers mitten im Wohnzimmer, zu Stoßzeiten im Minutentakt. Nach Berliner Lärmaktionsplan ist das fürs Wohnen eindeutig zu laut.
Genau hier werden im kommenden Jahr Familien und Menschen mit geringem Einkommen einziehen. Die 122 Sozialwohnungen werden gerade fertiggestellt. Da die Groth-Gruppe diese nicht selbst vermieten wollte, hat sie sie an die städtische Wohnungsbaugesellschaft Gewobag verkauft. Die Wohnungen haben Bedeutung für das gesamte Neubaugebiet.
Denn das liegt eben direkt an der Bahntrasse und braucht daher ein spezielles Lärmschutzkonzept. Im Mauerpark wird der Sozialwohnungsblock die teureren Wohnungen zum Kaufen und Mieten im Süden des neuen Viertels von den Gleisen abschirmen. Damit macht die Gewobag die günstigen Wohnungen zur Schallschutzmauer, und findet das auch nicht problematisch. „Halb Berlin liegt an Bahntrassen“, erklärt das Unternehmen. Mit besonderen Fassadenkonstruktionen und Grundrissen, die in jeder Wohnung auch Zimmer zur lärmabgewandten Seite vorsehen, könne man dem Problem gut Herr werden. Das entspricht auch dem deutschen Baurecht – solange doppelte Fenster und spezielle Lüftungsanlagen eingebaut werden, die den Krach unter die gesetzlichen Richtwerte drücken.
Eine ähnliche Planung gibt es an der Lehrter Straße. Auch dort sind die Sozialwohnungen Teil eines Lärmschutzriegels. Sie schirmen das neue Wohngebiet für 2000 Menschen ab vor der benachbarten Zufahrt zum Hauptbahnhof, auf der die Züge bis nach Mitternacht rollen.
Der zusätzliche Schallschutz, der für die Sozialwohnungen nötig wird, kostet. Allerdings die landeseigenen Wohnungsbaugesellschaften. Während die dahinter liegenden Kauf- und Mietwohungen aufgrund der ruhigeren Lage auch teurer vermietet oder verkauft werden können.
Als Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller sich 2016 zur Wiederwahl stellte, hing in der ganzen Stadt ein Wahlplakat, „Berlin bleibt bezahlbar“ stand darauf. Darunter „Michael Müller: 100 000 städtische Mietwohnungen. Neues Baurecht nur noch mit mindestens 25 Prozent Sozialwohnungen“. Das war das Versprechen.
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