Juliane Schader

Schaflos in Köln

Brand Eins vom Oktober 2015

Für einen Friedensbringer kommt die kleine Kehrmaschine ganz schön aggressiv daher. Rasant fährt sie auf die Jugendlichen zu, die es sich vor dem Kirchenportal gemütlich gemacht haben. Im letzten Augenblick flüchten sie, sodass die Maschine unter der Führung des lässig am Lenkrad kurbelnden Müllmanns verstreute Chipstüten, Glasscherben und Zigarettenstummel aufsaugen kann. Kaum ist der Job erledigt, kehren die geflüchteten Jugendlichen zurück: Die Mission der Maschine, den Platz friedlich zu räumen, ist damit doppelt gescheitert.

Es ist kurz vor Mitternacht an einem typischen Sommerabend auf dem Brüsseler Platz im Kölner Westen. Schon seit Stunden ist hier kein Bein mehr an die Erde zu bekommen. Nicht nur die Plätze an den Tischen der Restaurants und Bars sind belegt. Überall stehen junge Leute herum, sitzen an den Rändern der Blumenbeete oder auf den Tischtennisplatten, die auf dem Platz aufgestellt sind. Die leer getrunkenen Bierflaschen überlassen sie den Pfandsammlern, die der Masse nur mithilfe von Einkaufswagen Herr werden. Der Weg zum Nachschub ist zum Glück nicht weit. „Le Kiosk“ ist gleich um die Ecke und hat Caramel Macchiato, Biolimonade und Alkohol jedweder Art im Sortiment.

Vielen Anwohnern zufolge haben mit diesem Laden die Probleme angefangen. „Probleme? Wir haben kein Problem“, sagt die junge Verkäuferin, die unentwegt Flaschen öffnet und sie über den Tresen reicht. Direkt vor ihrer Tür bepöbeln sich ein paar Jungs, Glas geht zu Bruch. Über dem Platz liegt ein lautes Dauerrauschen. Wenn sich 500 Menschen unterhalten, verursachen sie den Geräuschpegel eines Laubbläsers.

„Man müsste eine Hundertschaft Polizisten rufen, dann wäre Ruhe“, sagte einer der genervten Anwohner beim Gespräch am Nachmittag. Doch für die Stadt Köln kommt das nicht infrage. Schließlich gilt so ein Treffpunkt im öffentlichen Raum als hip und urban – und für Städte heute als überlebenswichtig. Während Deutschlands Bevölkerung schrumpft, wachsen manche Großstädte wie seit Jahrzehnten nicht mehr: In Berlin sollen im Jahr 2030 mehr als 3,7 Millionen Menschen leben – fast sieben Prozent mehr als heute. In München rechnet man bis zu diesem Zeitpunkt mit einem Zuwachs von mindestens 15 Prozent, in Leipzig mit knapp 14. Für Köln geht eine aktuelle Prognose von 13,5 Prozent mehr Einwohner bis 2040 aus.

Das derzeitige Bevölkerungswachstum deutscher Großstädte sei nicht durch mehr Geburten zu erklären, sagt Jakob F. Schmid, Stadtforscher an der Hamburger Hafencity Universität. „Es handelt sich um Wanderungsgewinne.“ Mobil seien vor allem Menschen zwischen 18 und 30 Jahren, die für den Job oder die Ausbildung umzögen. „Für sie ist das Nachtleben natürlich ein Anziehungspunkt und damit ein Standortfaktor. Den Städten wird das zunehmend bewusst.“

Gemeinsam mit seinem Kollegen Thomas Krüger hat Schmid analysiert, wie das nächtliche Treiben die Entwicklung von Städten beeinflusst. So systematisch hat das in Deutschland vor ihnen noch keiner gemacht. Nachtleben sei ein schillernder Begriff, der bislang nur als Teil von Tourismus oder Gastronomie wahrgenommen werde, nicht aber als Wirtschaftszweig, so Schmid.

In Großbritannien sei das anders, dort spreche man schon seit den frühen Neunzigerjahren von der Night Time Economy. Die Briten kämpften damals mit dem Problem, dass Menschen aus den Städten ins Umland zogen und die von Bürogebäuden geprägten Zentren nach Feierabend zunehmend verödeten. Pubs und Clubs wurden daraufhin als Katalysator erkannt, um Orte zu beleben. Seitdem spielt das Nachtleben in der Stadtplanung eine wichtige Rolle. Kürzlich haben sich die Betreiber der Nachtökonomie zur Night Time Industries Association zusammengeschlossen. Dank eines Jahresumsatzes, den der Verband auf 70 Milliarden Pfund – rund 96 Milliarden Euro – beziffert, hat die Lobby Schlagkraft. In Deutschland sind vergleichbare Institutionen erst im Aufbau, und die Zahlen zur Wirtschaftskraft der Nachtökonomie verstecken sich noch in Statistiken über Bierkonsum, Hotelübernachtungen und Theaterbesuchen. Für ihre Studie haben die Forscher sie zumindest für einige Großstädte aus der Umsatzsteuerstatistik für das Jahr 2012 herausgerechnet – soweit das Datenmaterial dies zuließ.

Demnach wurden in Berlin allein für Getränke in Bars, Kneipen und Clubs 239 Millionen Euro ausgegeben, weitere 338 Millionen für Theateraufführungen, Konzerte und Kleinkunstangebote. Der Umsatz pro Einwohner lag bei 171 Euro. In Köln bei 284 Euro, in München bei 243 Euro, in Leipzig bei 121 Euro.

Wie viele Menschen im Nachtleben Arbeit finden, ließ sich nicht ermitteln. Schmid und Krüger fanden jedoch heraus, dass jeder zweite 18- bis 35-Jährige im vergangenen Jahr für einen Abend außer Haus mehr als 30 Euro ausgab; jeder Fünfte mehr als 50. Und für die Getränke in Bars und Clubs zahlte etwa ein Kölner dieser Altersspanne im Schnitt mehr als 600 Euro im Jahr.

Ein lebendiges Nachtleben ist auch für das Image einer Stadt bedeutsam. Der Ruf Berlins hängt an dem, was nachts in einem Club wie dem „Berghain“ passiert. Ohne St. Pauli wäre Hamburg undenkbar, und so manche der einst abgehängten Viertel wie Berlin-Neukölln oder Städte wie Leipzig verdanken ihren Aufschwung Bars, Clubs und halb legalen Partys auf verlassenen Fabrikgeländen.

Zunehmend findet das Nachtleben auf der Straße statt. „Die Ansprüche an den öffentlichen Raum und die Zeit, wann man ihn nutzen kann, haben sich gewandelt – Experten sprechen von einer Mediterranisierung der Innenstadt“, sagt Stadtforscher Schmid. Früher saß man nur im Italienurlaub auch nach Sonnenuntergang noch auf der Piazza. Heute ist das auch auf dem Brüsseler Platz in Köln, der Berliner Admiralsbrücke oder dem Friedberger Platz in Frankfurt üblich. Konflikte mit Anwohnern sind da kaum zu vermeiden.

Am Brüsseler Platz ist die Kehrmaschine längst abgerückt. Es ist nach eins, nicht mehr ganz so voll, aber nach wie vor recht laut. In den umliegenden Häusern brennt noch Licht. In einem kontrolliert Karl Josef Wallmeyer ein letztes Mal sein Lärmmessgerät, bevor er zu schlafen versucht. Schon beim Treffen am Nachmittag sah er ziemlich müde aus. Sein Büro für Industrie-Elektronik liegt in einer der Seitenstraßen, die in den Platz münden. Wallmeyer ist Mitgründer des Bürgerbüros – ein loser Zusammenschluss von 300 Anwohnern, denen Lärm und Müll zu viel geworden sind. Auch sein Mitstreiter Detlef Hagenbruch ist da.

„Meine Großeltern zogen 1905 her. Ich bin hier aufgewachsen und wohne seit 1960 direkt am Platz“, sagt Wallmeyer als Erstes. Ihm ist bewusst, was andere sagen: Wer am Brüsseler Platz lebt, der müsse wissen, dass man sich dort an jedem Sommerwochenende zum Feiern trifft. Wer Ruhe will, wohne besser woanders. Wallmeyer aber war vor dem Partyvolk da.

Er sagt: „Wir sitzen doch auch gerne draußen, bis zehn, elf Uhr. Aber hier werden nachts um vier noch Tischtennisturniere ausgetragen.“ Dann schiebt er Grafiken über den Tisch, die sein Lärmmessgerät aufgezeichnet hat: Bis Mitternacht steigt der Geräuschpegel bis zu 70 Dezibel an – so laut ist ein Rasenmäher. Danach wird es ruhiger, aber vereinzelte Ausschläge dokumentieren, dass Betrunkene auch am frühen Morgen noch randalieren. Hagenbruch liefert die Bilder dazu, auf DIN A4 ausgedruckt und laminiert – in Sachen Problembeschreibung ist er mittlerweile Profi. „Hier sieht man die Flaschenberge nach einer Partynacht. Und hier haben Betrunkene die Blumen aus den Beeten gerupft.“ Blumen, die von einer Kitagruppe gepflanzt worden seien. „Wie soll man den Kindern das erklären?“ Er zeigt das Foto eines Mannes mit einem großen Aufsteller, der auf ein Alkoholverbot und die einzuhaltende Nachtruhe hinweist. „Das ist der Bürgermeister von Prag. So wünschen wir uns das auch.“

Seit fünf Jahren kämpfen Wallmeyer und Hagenbruch für Ruhe. Sie fühlen sich von der Stadt im Stich gelassen. Und für den direkten Dialog mit den Betreibern der Nachtökonomie fehlt es an geeigneten Gesprächspartnern.

In Berlin ist das anders. Dort haben sich vor 15 Jahren Betreiber von Clubs und Bars zur Berliner Clubcommission zusammengeschlossen. Lutz Leichsenring ist ihr Sprecher. „Natürlich haben wir Verständnis für die Position der Anwohner. Aber das hat Grenzen“, sagt er. Wenn jemand sich in seinem veränderten Umfeld gar nicht mehr wohlfühle, müsse er sich fragen, ob er noch Teil des Bezirkes sei oder nur noch Querulant.

Er sitzt bei Sonnenschein und Salat in einem Café in Prenzlauer Berg. Ein paar Jahre ist es her, da schlossen im Szeneviertel reihenweise Clubs, weil Nachbarn wegen Lärmbelästigung vor Gericht gezogen waren. Wenn es nach der Clubcommission geht, soll so etwas in Berlin nicht noch einmal passieren.

Auf einer Internetseite hat sie Tipps für eine friedliche Koexistenz gesammelt, sie reichen vom Kaffeeklatsch mit Anwohnern über Schallschutzberatung bis hin zum Einsatz einer Wandfarbe, die Urin zurückspritzen lässt. Im Juni wurde zudem ein Kataster vorgestellt – eine Karte, auf der Bars und Clubs verzeichnet sind, damit die Stadtplaner wissen, wo sie, etwa bei der Genehmigung von Neubauten, Lärm berücksichtigen müssen.

Aktuell gehe es etwa darum, Free Open Airs zu legalisieren, sagt Leichsenring. Dabei handelt es sich um Partys, für die man lediglich einen öffentlichen Park, eine tragbare Anlage und einen Facebook-Account braucht, über den man einladen kann. „Derzeit ist die Verwaltung überfordert, denn es gibt kein Regelwerk. Was nicht ausdrücklich erlaubt ist, gilt als verboten. Da müssen wir ansetzen, um Freiräume auszuloten.“

In Köln ist das die Aufgabe von Insa Klock, Projektbeauftragte im Ordnungsamt. Das Viertel um den Brüsseler Platz, sagt sie, durchlaufe bereits seit den Achtzigerjahren den Prozess, dessen Extremform man Gentrifizierung nenne. „Es gibt dort also schon lange Außengastronomie und sehr offene Anwohner“, sagt sie. Doch seit der Fußball-WM 2006 entwickle sich auf dem Platz eine Dynamik, die selbst langjährigen Innenstadtbewohnern viel abverlange. „Es ist uns absolut klar, dass eine lebendige Stadt attraktiv ist. Aber sie muss auch bewohnbar bleiben. Beides zu gewährleisten ist ein Balanceakt und eine Herausforderung ohnegleichen.“

Was die Kölner ausprobiert haben, um Ausgewogenheit zu schaffen, erinnert an Geschichten aus Schilda: Man hat zum späten Abend das Licht abgedreht, um auf diese Weise eine Aufbruchstimmung zu verbreiten. Daraufhin brachten die Besucher Taschenlampen mit. Als man es alternativ mit greller Beleuchtung versuchte, konterten sie mit Sonnenbrillen. Man bemühte sich, den Szenetreff in eine umliegende Grünanlage zu verlagern, aber dadurch wurde nur noch mehr Publikum angelockt. Und als eine Anzeigetafel für den erreichten Lärmpegel installiert wurde, um die Belastung für die Anwohner zu verdeutlichen, sahen sich die Feierfreudigen zu immer neuen Rekorden herausgefordert.

„Es gibt viele, die den Platz regelmäßig besuchen“, sagt Klock. Zumeist sei das ein sehr angenehmes Publikum. „Keine Komasäufer, die auf Randale aus sind.“ Doch es seien einfach zu viele. Vor zwei Jahren zogen die Anwohner wegen des Lärms vor Gericht, das statt eines Urteils eine Mediation vorschlug.

Deren Ergebnis heißt „Modus Vivendi“ und sieht unter anderem den Einsatz der Kehrmaschine vor, die nun gegen Mitternacht die Herumsitzenden aufscheucht. Wer schon mal steht, der geht, so das Kalkül. Die Außengastronomie wird zudem weiträumig ausgedehnt, wobei deren Tische und Stühle bis 24 Uhr abgebaut sein müssen. Danach sollen die Läden im Umkreis auch keinen Alkohol mehr verkaufen. Schließlich wird getestet, wie hilfreich es ist, die Feiernden gezielt anzusprechen und zum Gehen aufzufordern.

„Es ist ungeheuer schwer zu sagen, welche Maßnahmen im Einzelnen wirken. Aber in ihrer Summe tragen sie zu einer besseren Situation auf dem Platz bei“, sagt Klock.

Stadtforscher Schmid zufolge macht sie vieles richtig. Doch reiche derartige Befriedung nicht. „Unser Plädoyer ist, das Nachtleben bei der Stadtplanung strategisch mitzudenken, bewusst Räume dafür zu schaffen und zu überlegen, welche Funktionen sich damit beißen“, sagt er. Reine Feiergettos zu schaffen sei allerdings keine Lösung. „Quartiere wie das Schanzenviertel in Hamburg sind beliebt, eben weil dort auch gewohnt wird.“

Am Brüsseler Platz in Köln bringen die Anwohner dafür kein Verständnis mehr auf. Sie haben einen privaten Sicherheitsdienst engagiert, der endlich für Ruhe sorgen soll.