Juliane Schader

Ich bin die Zukunft

Der Freitag vom 15. Oktober 2015

Berlin-Kreuzberg, 11.30 Uhr. Das Klischee sitzt: Die hellen Büroräume in einer alten Fabriketage erreicht man über einen zugestellten Hinterhof und ein abgelatschtes Treppenhaus. An der Stahltür hängt kein repräsentatives Namensschild, sondern eine handbeschriftete Karteikarte. Wenn man eintritt, fällt der erste Blick auf leere Club-Mate-Flaschen. Im Raum nebenan werkelt die Redaktion an neuen Computern. Alle hier sind jung, alle sind unfassbar gut gelaunt und alle könnten jederzeit aufstehen und die Hauptrolle in einem Werbefilm für glutamatfreie Frühstücksflocken übernehmen.

Das ist er also, der neue, deutsche Online-Journalismus: hip, aufgeweckt, unprätentiös. Seit Juli ist Ze.tt online – zunächst mit einer Testphase, die nun bald in den Regelbetrieb übergehen soll. Das Online-Portal richtet sich an junge Leute zwischen Schulabschluss und erstem Jobwechsel. Es wurde aus Zeit Online ausgekoppelt, das wiederum vor fast 20 Jahren als Internet-Ableger der Zeit entstand.

„Eine Aufgabe von Ze.tt könnte es sein, etwas Unordnung in unseren geordneten Onlinejournalismus zu bringen, unsere Selbstgewissheit zu stören, uns zu ärgern, zu verwirren, neue Wege zu beschreiten, sowohl journalistisch als auch technisch“, sagte Jochen Wegner, Chefredakteur von Zeit Online, zum Start des neuen Projektes. Ein Hinterhofbüro ohne Firmenschild ist da Teil des Programms.

Auch bei Spiegel Online hat man die Leser diesseits der 30 entdeckt. Seit Anfang Oktober gibt es für sie Bento: ein eigenes Portal, das politische Berichte in kleinen Häppchen unter Texte übers Häkeln und das Nachkochen zerknüllter Einkaufszettel mischt. Schon im September startete BYou, ebenfalls neu, ebenfalls für junge Menschen, eine Unterseite von bild.de. Im Lauf des Oktobers folgen vergleichbare Angebote, ausgekoppelt aus den Redaktionen des Handelsblatts sowie der Bunten.

Alle Angebote eint, dass sie sich an eine junge Zielgruppe wenden und versuchen, Aufmachung und Ansprache deren Mediengewohnheiten anzupassen – oder dem, was man in deutschen Verlagen dafür hält. Dass sie alle gleichzeitig starten, hat ökonomische Gründe. Den Verlagen steht das Wasser bis zum Hals. Schon seit Jahren befinden sich die Auflagen der Printtitel im Sinkflug. Der Spiegel hat zuletzt noch 823.000 Exemplare verkauft, vor zehn Jahren waren es noch 1,07 Millionen. Im gleichen Zeitraum ging es für die FAZ von 376.000 auf 265.000 Exemplare runter. Die Auflage der Bild-Zeitung sank von 3,8 auf 2,1 Millionen. Die Einkünfte aus Verkauf und Werbung stürzten ab. Das ist das eine.

Darüber hinaus verlieren die Zeitungen aber den Anschluss an die jungen Leute. Laut dem Institut für Demoskopie Allensbach lasen 1970 fast 84 Prozent der 25- bis 29-Jährigen eine gedruckte Tageszeitung. Heute sind es gerade einmal 29 Prozent. Nun könnte man meinen, dass die Jungen einfach ins Netz abgewandert sind und dort die Online-Ausgaben der Zeitungen lesen. Doch das ist nicht so. Gerade einmal 37 Prozent der 14- bis 29-Jährigen nutzen derartige Angebote, hat die Arbeitsgemeinschaft Online-Forschung herausgefunden.

Lange meinte man, der Geburtsfehler des Onlinejournalismus sei es gewesen, Zeitungsartikel im Netz kostenlos einzustellen. Nun musste man feststellen, dass junge Menschen die Inhalte der Zeitungen nicht einmal geschenkt haben möchten. Stattdessen verbringen sie ihre Zeit lieber mit Medien, die nicht aus etablierten Verlagshäusern stammen. Die neue Konkurrenz im Wettbewerb um Aufmerksamkeit heißt Buzzfeed oder Heftig, aber auch Facebook, Whatsapp oder Snapchat. Statt über die neuesten Entwicklungen der Bundespolitik informieren sie sich dort darüber, wie unrealistisch die Körperproportionen von Disney-Prinzessinnen sind, und was die beste Freundin gepostet hat.

Die meisten dieser Themen sind leicht, wenig komplex, dafür aber emotional aufgeladen. Gelesen und dann mit den Freunden geteilt werden lustige Tiere, peinliche Promis und auch mal Angela Merkel – aber nur, wenn sie eine lustige Handbewegung gemacht oder eine Kette in Deutschlandfarben getragen hat. Statt sachlicher Berichte, langer Reportagen oder politischer Kommentare werden Häppchen präsentiert, mal in Form einer Liste, mal als eine Bildergeschichte, die sich aus ein paar kurzen Sätzen und ein paar Fotos aus sozialen Netzwerken zusammensetzt. Mit kritischem Journalismus hat das nichts zu tun, hier geht es vorwiegend um Unterhaltung. Dennoch nehmen sich die neuen Portale der großen Medienhäuser nun genau das zum Vorbild.

Die in Grau und Orange gehaltene Website von Ze.tt gibt sich so aufgeräumt, wie man es von Jugendzimmern in Haushalten mit Zeit-Abo erwartet. Wie Kacheln im Bad reihen sich Fotos aneinander mit Überschriften, die auch mal frech sein sollen: „Kacken für den Umweltschutz“ – „Planking ist sooo 2009. Jetzt gibt’s Extreme Phone Pinching“ – „Friedensnobelpreis: Wofür das Dialogquartett aus Tunesien ausgezeichnet wurde“. Klickt man auf ein Bild, gelangt man zu einer Mischung aus Sätzen, Fotos, Videos und Tweets, die zu kleinen Geschichten angeordnet sind. Nebensätze sind Mangelware; selbst ein komplexes Thema wie das tunesische Quartett wird nur kurz abgehandelt. Wer mehr wissen will, soll dem Link zur Begründung des Nobelpreis-Komitees folgen.

„Gerade probieren wir noch aus, welche Themen und Formate funktionieren“, sagt Ze.tt-Chef Sebastian Horn. Der 30-Jährige hat bei Zeit Online die Community betreut und bei einem Start-up gearbeitet. Nun macht er Journalismus für Menschen, für die ein Telefon schon immer einen Touchscreen hatte. Zentral sind für ihn dabei zwei Elemente: „Bei Ze.tt dürfen Artikel eine Haltung haben. Das kann bis in Aktivistische gehen“, sagt Horn. „Außerdem legen wir einen Schwerpunkt auf positive Nachrichten und eine konstruktive Sichtweise. Das bedeutet nicht, dass wir das Negative ausblenden. Indem wir sagen, was man tun kann, benennen wir auch das Problem.“

Das führt dazu, dass die Flüchtlingskrise bei Ze.tt als Handlungsempfehlung daherkommt, wie man helfen und welche Aktionen man sich als Beispiel nehmen kann. Dass das Erfolg haben kann, zeigt ein Video, in dem 50 Hamburger Frisöre Flüchtlingen kostenlos die Haare schneiden. Zwei Millionen Mal wurde es auf der Ze.tt-Facebookseite angesehen. Details zur Debatte über eine Obergrenze für Flüchtlinge oder zu ihrer Verteilung in Europa sucht man hingegen vergeblich.

Die Welt von Ze.tt ist positiv, nett, übersichtlich. Mit der Realität hat sie damit allerdings wenig gemein. Vor lauter Angst, die jungen Leser mit zu langen oder komplizierten Texten abzuschrecken, werden sie mit banalisierten Inhalten unterfordert. Offenbar traut die Redaktion ihrer Zielgruppe, zu der ja auch Studenten und Berufseinsteiger gehören, nicht zu, sich länger als drei Minuten mit einem Thema auseinanderzusetzen. Nun ist die Frage, wie sympathisch es ist, seine Leser für nicht sonderlich interessiert zu halten.

Gravierender sind aber die Folgen, wenn das die Richtung sein sollte, in die der gesellschaftliche Diskurs in Zukunft abdriftet. Der Syrienkonflikt lässt sich nicht in einem Gif, also einem animierten Bildchen, zusammenfassen. Und die Flüchtlingsfrage kann man nicht in drei Tweets diskutieren. Wenn Angebote wie Ze.tt und Bento die Zukunft des Journalismus sein sollten, würden komplexere Politikdebatten abseits des Bundestags nicht mehr stattfinden.

Noch sieht sich Ze.tt nur als ein Baustein einer vielfältigen Mediennutzung. „Thematisch gibt es zwar keine Begrenzung, aber es gibt auch keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Wir werden immer Schwerpunkte setzen“, betont Horn. „Unsere Zielgruppe hat vorher schon Medien konsumiert und wird das auch weiterhin tun. Wir bieten eine Vertiefung für manche Themen.“ Demnach sieht man sich auch nicht als Konkurrenz, sondern als Ergänzung zu Zeit Online. Doch warum sollten junge Menschen, denen man heute eine einfache, positive Nachrichtenwelt präsentiert, es später komplizierter haben wollen? Im Zweifel werden hier die Weichen Richtung Banalität gestellt – wobei noch offen ist, ob die Jungen dem überhaupt folgen. Nutzerzahlen werden derzeit nicht veröffentlicht.

Dabei ist Ze.tt noch das gediegenste unter den neuen Angeboten der Verlage. Wesentlich bunter und lauter geht es bei BYou zu, mit dem die Macher von bild.de 12- bis 18-Jährige erreichen möchten. Anders als die Kollegen aus dem Zeit-Verlag hat man dafür keine eigene Redaktion, sondern lässt die Journalistenschüler der Axel-Springer-Akademie auf einer Unterseite der eigenen Homepage sich austoben. Nun steht dort auf der Seite „Diese Frisuren tragen Frauen und Männer untenrum“ neben „Diese Selfie-Junkies knipsen auf Beerdigungen“ und den „9 schlimmsten SchminkFails.“ Dazwischen hat sich „Diese 8 Dinge musste du über TTIP wissen“ verirrt. Nach dem Klick warten Satzfetzen, animierte Bilder und aus sozialen Netzwerken herausgefischte Tweets und Posts.

Zum Start sagte bild.de-Chef Julian Reichelt, man wolle „das journalistische Storytelling für die mobile Nutzung in den Vordergrund stellen“. Bislang beläuft sich das darauf, bewährte Bild-Methoden – kurze Sätze, viele Ausrufezeichen – noch um Emojis und Artikel in Listenform, sogenannte Listicles, zu ergänzen.

Sicher, es ist eine gute Nachricht, dass deutsche Verlage überhaupt im Netz investieren. Über Jahre schien ihre Strategie in der Hoffnung zu bestehen, dass das Internet wieder weggeht. Jetzt möchten alle gleichzeitig am jungen Publikum neue Techniken und Formen ausprobieren. Das ist gut.

Schlecht ist hingegen, dass sie dabei etwas als neu und experimentell ansehen, das es andernorts längst gibt. Fast zehn Jahre ist es her, dass die Präsentation eines Themas als Liste, das Stricken von Geschichten um Tweets herum und die Absage an lange Fließtexte in den USA eingeführt wurden. Damals ging Buzzfeed online, das sich selbst als Medienunternehmen für das „soziale Zeitalter“ beschreibt. Bekannt und erfolgreich wurde das Portal, indem es süße Katzenbilder und Listicles wie „25 Dinge, an denen du erkennst, dass du in den 90ern aufgewachsen bist“ verbreitete. Zu diesem Unterhaltungsschwerpunkt hat sich mit der Zeit ein seriöser Journalismus gesellt, der heute auch erlaubt, dass Korrespondenten auf 12.000 Zeichen erklären, warum Russland in Syrien eingreift (mehr zu Buzzfeed hier).

Mittlerweile hat das Unternehmen weltweit Außenstellen. Seit gut einem Jahr gibt es Buzzfeed Deutschland, was auch erkläre, warum ausgerechnet jetzt alle Verlage an neuen Angeboten feilten, sagt Stephan Weichert. Er ist Journalistik-Professor und leitet den Studiengang Digital Journalism der Hamburg Media School. Weichert bemängelt, dass den deutschen Projekten der originäre Ansatz fehle. „Andererseits hat Buzzfeed seit Jahren Dinge ausprobiert und eine Expertise aufgebaut. Sich daran zu orientieren, ist legitim. Besser gut kopiert als schlecht etwas Neues erfunden.“

Dass die Artikel oft banalisieren und statt zusammenhängender Texte Stückwerk bieten, sei auch die Schuld der Nachwuchsleser, sagt Weichert: „Die junge Zielgruppe hat die Aufmerksamkeitsspanne einer Stubenfliege. In der Masse kann man viele von ihnen nicht mehr anders erreichen als mit Listicles und Katzenbildern.“

Aber stimmt das? Die Klage, dass die Jugend von heute nicht mehr das Niveau der Älteren erreicht, begleitet die Menschheitsgeschichte ja seit Jahrtausenden. Laut der gerade veröffentlichten Shell-Jugendstudie gibt aber fast die Hälfte der 15- bis 24-Jährigen an, sich für Politik zu interessieren. Und die wollen TTIP sicher nicht in drei Emojis erklärt bekommen, nur weil sie mit ihren Freunden auf diese Art kommunizieren. Wenn die Jugend etwas nicht leiden kann, dann ist es, nicht für voll genommen zu werden. Genau den Eindruck vermitteln aber BYou und Co.

Die Verlage haben bei den Jugendmedien allerdings abschreckende Beispiele vor Augen – etwa die Bravo, die über Jahrzehnte all diejenigen mühelos erreicht hat, um die Ze.tt, BYou und Bento nun buhlen. Noch vor zehn Jahren wurden jede Woche 455.000 Hefte verkauft. Heute sind es nur noch 158.000, weil man den Medienwandel schlichtweg verschlief.

Seit Anfang des Jahres erscheint das gedruckte Heft nun nicht mehr wöchentlich, sondern nur noch alle 14 Tage. Dafür wurde der Online-Auftritt überarbeitet. Neben allem, was 13-Jährige über Justin Bieber und GZSZ-Sternchen wissen wollen, finden sich dort Texte mit Überschriften wie „Instagram: Mit diesen Filtern kriegst du die meisten Likes“ oder „Genial! Dieses Einhorn zeigt Dir, wie Du richtig kacken sollst!“ Für Marc de Laporte, Geschäftsführer der für die Bravo zuständigen Bauer München Redaktions KG, ist dieser Auftritt perfekt an die Mediennutzung junger Menschen angepasst. Nun war die Bravo auch in besten Zeiten nie ein politisches Medium, sondern setzte immer auf Stars und Dr. Sommers Sex-Tipps. Aber das, was heute Bravo online ausmacht, ist schlicht eine Kapitulation vor der Banalität.

Ze.tt-Chef Sebastian Horn gibt sich aber betont optimistisch: „Es wird weniger geredet und verdammt viel gemacht derzeit. Das freut mich als jemand, dem Journalismus im Netz sehr am Herzen liegt.“ Wie seine Kollegen von Bento oder BYou hat Horn nun die Chance, Online-Journalismus zu machen, den junge Menschen lesen möchten. Dafür muss er allerdings aufhören, seine Leser als scheue Dummchen zu behandeln, die beim Hauch von Komplexität im Dickicht des Internets verschwinden. Ausgerechnet Buzzfeed macht in den USA vor, dass man gleichzeitig Katzenbilder verbreiten und investigativen Journalismus betreiben kann.

„Noch haben Verlage eine Chance, sich selbst neu zu erfinden und ihre Marken im Netz zu positionieren“, sagt Stephan Weichert. „In zehn Jahren wird das nicht mehr möglich sein.“ Weitaus gefährlicher für die Gesellschaft wäre es aber noch, wenn die Verlage zwar überlebten, doch die Inhalte nicht mehr stimmten. Die Welt ist komplexer als ein Gif. Das verstehen auch junge Menschen.