Juliane Schader

Das System hält die Hand auf

Krautreporter vom 4. März 2015

Zwischen Schlaganfall und Papierkrieg lagen für Walter Behrend* nur ein paar Wochen. Eben noch hatte der 52-Jährige mit beiden Beinen im Beruf gestanden. Nun musste er plötzlich nicht nur mit starken körperlichen Einschränkungen kämpfen, sondern auch mit einem überaus komplizierten Sozialsystem, von dem er nur wusste: Irgendwo hier sollte ihm jemand helfen können. Aber wer genau, blieb ihm lange unklar.

Eingliederungshilfe, so lautete einer der Begriffe, an denen er sich entlanghangeln sollte. Darunter versteht man Unterstützungen, die Menschen mit körperlicher, geistiger oder psychischer Behinderung eine Teilhabe an der Gesellschaft ermöglichen sollen. Dazu zählen nötige Hilfen in der eigenen Wohnung, auf dem Weg zur Arbeit oder Schule oder auch durch spezielle Therapien. Übernommen werden diese von Kranken- und Rentenkassen, dem Jobcenter oder den Sozialämtern. Wer zuständig ist, hängt unter anderem von der Art der Behinderung und ihrer Ursache ab. Um Kosten abzuwälzen, schieben sich die verschiedenen Stellen die Verantwortung gerne gegenseitig zu. In Behrends Fall wollte man ihn sogar am liebsten an gar nichts teilhaben lassen; man wollte ihn nur verrenten. Das war das Problem.

Heute, drei Jahre später, ist Walter Behrend zumindest mit einer halben Stelle wieder zurück in seinem alten Job. Sein Arbeitsplatz und sein Auto wurden für ihn umgerüstet, sodass er seit kurzem sogar wieder selbst zur Arbeit fahren kann. „Wenn wir nicht immer wieder drangeblieben wären und nachgehakt hätten, wäre das nicht möglich gewesen“, erzählt seine Frau Silvia*. Die Zuständigkeiten waren einfach zu kompliziert, die Formulare unlesbar, die Auskünfte zu widersprüchlich. „Ich hätte erwartet, dass ein Angebot für Menschen mit Behinderung barrierefreier gestaltet wäre.“

Für Außenstehende ist das System der Eingliederungshilfen in Deutschland in etwa so leicht zu durchschauen wie die Beantragung des Passierscheins 38a bei Asterix und Obelix („Asterix erobert Rom“). Schon der Begriff ist verwirrend, suggeriert er doch, hier sei jemand durch das gesellschaftliche Raster gefallen und müsse mit ein wenig Unterstützung wieder auf den rechten Weg gebracht werden. Dabei geht es um Menschen mit Behinderungen, die Hilfen im Alltag, bei der Arbeit oder zu Hause benötigen, oft ihr ganzes Leben lang.

Das kostet Geld. Für die Sozialämter und die Kommunen, die hinter ihnen stehen, wird das zunehmend zum Problem. Sie übernehmen die Zahlungen, wenn sich keine andere Stelle zuständig fühlt. Anders als es die Verortung beim Sozialamt vermuten lässt, hängt das nicht unbedingt vom Einkommen der Menschen ab. Eingliederungshilfen sind einfach der staatliche Beitrag zur Teilhabe behinderter Menschen. Rund 834.000 von ihnen wurden im vergangenen Jahr deutschlandweit aus den Sozialkassen unterstützt. 14 Milliarden Euro wurden dafür ausgegeben – das sind 700 Millionen Euro mehr als fünf Jahre zuvor. Seit 1990 haben sich die Kosten mehr als verdreifacht.

„Es steht außer Frage, dass Menschen mit Behinderungen alle Hilfen bekommen sollen, die sie benötigen“, sagt Lioba Zürn-Kastzantowicz. „Aber die Gesellschaft muss sich fragen, wie viel Prozent vom Bruttoinlandsprodukt sie dafür ausgeben will. Ich würde mir wünschen, dass das rechtzeitig diskutiert wird, bevor das System zusammenbricht und uns womöglich viel radikalere Einschnitte drohen.“

Zürn-Kasztantowicz ist SPD-Stadträtin und Chefin des Sozialamtes im Berliner Bezirk Pankow. Knapp 400.000 Einwohner zählt dieser; etwa 2.800 von ihnen haben 2014 Eingliederungshilfen bezogen. Fast 83 Millionen Euro wurden dafür ausgegeben – das ist über ein Zehntel des gesamten Haushaltsvolumens, und die Zahlen steigen. Pankow ergeht es damit wie den meisten Kommunen in Deutschland.

Wer sich auf die Suche nach Erklärungen für diese Zunahme macht, stößt zunächst auf die gestiegenen Fallzahlen. 1991 haben in Deutschland 324.000 Menschen Eingliederungshilfen bezogen, heute sind es zweieinhalb mal so viele. Lange hat man das mit den Spätfolgen der Euthanasie-Programme der Nationalsozialisten begründet. Eine ganze Generation von Menschen mit Behinderungen wurde damals daran gehindert, alt zu werden. Heute, 70 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges, ist dieser Einfluss jedoch nur noch gering.

Dafür ist es der modernen Medizin zu verdanken, dass man mittlerweile auch mit einer Behinderung das Rentenalter erreichen kann. Zudem ist die Überlebenschance zum Beispiel nach einem schweren Unfall gestiegen; es kann aber sein, dass man danach auf Hilfen angewiesen ist. Darüber hinaus wird mit Behinderungen offener umgegangen, womit auch die Hemmschwelle gesunken ist, Unterstützung zu beantragen. Und noch ein Faktor ist entscheidend: Die Zahl der psychischen Behinderungen, die durch dauerhafte psychische Erkrankungen verursacht werden, ist in den vergangenen Jahren stark gestiegen: Eine Studie der Krankenkasse DAK spricht von einer Zunahme der Fälle, in denen Menschen aufgrund einer psychischen Erkrankung arbeitsunfähig wurden, um 140 Prozent zwischen 1997 und 2012. Als Gründe dafür werden steigender Druck bei der Arbeit sowie zunehmende soziale Vereinsamung angeführt.

Ein Teil der Kostensteigerung lässt sich so erklären. Allerdings haben diese im Verhältnis zur Zahl der Fälle überproportional zugenommen. Hier kommt nun ein Faktor ins Spiel, über den niemand gerne redet: Auch soziale Hilfen werden von Unternehmen mit Gewinnstreben erbracht.

Wer im Berliner Bezirk Pankow Eingliederungshilfen beantragen möchte, wird zunächst im Sozialamt vorstellig. Dort trifft man auf 22 Amtsmitarbeiter, die zu den Bedürfnissen behinderter Menschen speziell fachlich fortgebildet wurden, die sogenannten Fallmanager. Nach einem standardisierten System bestimmen diese, ob jemand eher Unterstützung im Alltag, bei der Arbeit in einer Werkstatt oder begleitend zur Schule benötigt. Experten sprechen von der Bestimmung des Hilfebedarfs.

Mit diesem Bescheid ausgestattet, sucht man sich einen „freien Träger“. Das sind private Sozialdienste, die zum Beispiel ein Wohnheim betreiben, Therapien anbieten oder sich um den Transport zur Arbeit kümmern. Anders als die Fallmanager, welche den Hilfebedarf schematisch bestimmen, beschäftigen sich deren Mitarbeiter oft täglich mit den Betroffenen. Erst so kann ein umfassendes Bild gewonnen werden, welche Hilfen dem einzelnen wirklich nützen. Klappt das mit dem Leben in der eigenen Wohnung? Reicht die vorgesehene Unterstützung aus, um einer Arbeit nachzugehen? Ist die anvisierte Therapieform die richtige? Das alles kann erst der Träger im Alltag feststellen.

Das führt zu einem Dilemma. Denn die einzigen, die den Hilfebedarf jedes einzelnen wirklich einschätzen können, sind auch diejenigen, die finanziell davon profitieren, wenn mehr Unterstützung in Anspruch genommen wird. Formal sind in Pankow zwar meist einmal im Jahr Überprüfungen durch das Amt vorgesehen, ob die Hilfen passgenau sind . Doch bei fast 3.000 Betroffenen, die bei mehr als 220 Einrichtungen im Bezirk Leistungen beziehen, geraten die 22 Fallmanager zwangsläufig ins Hintertreffen

Jemand aus dem Umfeld des Sozialamtes erzählt, dass manche Träger die Formulare der Fallmanager gleich selbst ausfüllten. Die Sozialstadträtin weist ein solches Vorgehen strikt von sich, gesteht aber ein, dass es am Personal mangele, das Handeln der Träger und deren Umgang mit dem Geld umfassend zu kontrollieren.

Ähnliche Probleme haben das 60 Kilometer nördlich von Hamburg gelegene Itzehoe viel Geld gekostet. Im vergangenen Jahr wurden dort mehrere Fälle bekannt, in denen sich die Betreiber von Wohnheimen für Menschen mit Behinderungen an Eingliederungshilfen bereichert haben sollen. Ihnen wird vorgeworfen, dass sie sich vom Amt die Betreuung durch Fachpersonal zwar teuer bezahlen ließen, diese dann aber ungelernten – und schlechter bezahlten – Hilfskräften überließen. Zudem seien die Heime überbelegt und zu wenig Personal vorhanden gewesen. Mehrere Millionen Euro an Schaden seien so entstanden, schrieb die Lokalzeitung. Dabei verdanke man es einem Zufall, dass der Betrug überhaupt aufgeflogen sei. „Das Dunkelfeld möglicher Fehlleitung von Mitteln ist nach Einschätzung von Experten deutlich größer.“

Zu den konkreten Fällen möchte sich die Leiterin des zuständigen Kreissozialamtes, Ellen Gahtow, nicht äußern, da das gerichtliche Verfahren noch laufe. Dafür erklärt sie, es habe System, dass derartige Betrügereien in Schleswig-Holstein nur durch Zufall aufgedeckt werden könnten.

Der Grund dafür liegt im Rahmenvertrag, der die Zusammenarbeit zwischen freien Trägern und Kommunen landesweit regelt. Darin werden die Möglichkeiten der Sozialämter, die Verwendung des Geldes sowie die Qualität der erbrachten Leistungen zu überprüfen, stark eingeschränkt. „Bis vor ein paar Jahren durften wir nur nach einem konkreten Hinweis auf einen Missbrauch kontrollieren“, erklärt Gahtow. „Die Träger hatten das so durchgesetzt. Regelmäßige Kontrollen einzugestehen, stelle sie alle unter einen Generalverdacht, lautete ihre Argumentation. Das könne ja wohl nicht sein.“

Seit 2013 ist zwar ein neuer Vertrag gültig, der Prüfungen ermöglicht. In einem Anhang ist jedoch festgehalten, dass diese mindestens drei Wochen im Voraus angemeldet werden müssen. Im Fall von Itzehoe wäre das genügend Zeit gewesen, zumindest für den Tag der Kontrolle nur das gut ausgebildete Personal einzubestellen und den Betrug zu vertuschen.

Und das ist nicht der einzige Knackpunkt. So dokumentiert der schleswig-holsteinische Landesrechnungshof in seinem Bericht von 2013, dass angesichts des Personalmangels in den Sozialämtern jede Einrichtung des Landes nur alle 240 Jahre mit einer Prüfung rechnen müsse. Zudem könnten die Ämter immer nur Einzelfälle kontrollieren. Strukturelle und regionale Probleme könnten so aber nicht aufgedeckt werden.

Wer etwas kriminelle Energie mitbringt, dem sind damit Tür und Tor geöffnet.
Dabei bietet die derzeitige Struktur der Eingliederungshilfen auch für Sozialdienste mit Rechtsempfinden genügend Möglichkeiten, gutes Geld zu verdienen.

Für den Bezirk Pankow hat das Land Berlin eine Liste der Kosten ins Internet gestellt, die die unterschiedlichen Träger für einzelne Leistungen berechnen. Laut dieser Liste kann ein Platz in einer Wohngemeinschaft für Menschen mit körperlicher oder geistiger Behinderung, die viel Hilfe benötigen, zwischen 88 und 126 Euro pro Tag kosten. Ein Betreuungstag in einer Werkstatt schlägt mal mit 74, mal mit 103 Euro zu Buche, die Betreuung in der eigenen Wohnung mit 114 bis zu 122 Euro. Wie viel die Träger verlangen, können sie weitestgehend selbst festlegen. Bezahlen muss in jedem Fall der Staat.

Angesichts immer weiter steigender Kosten gerät dieser jedoch zunehmend unter Zugzwang. Doch statt das System der Träger in Frage zu stellen und für mehr Transparenz zu sorgen, versucht er, bei den Hilfen selbst zu sparen. So erlebt es zumindest Jens Siebke, der sich als Berufsbetreuer (früher nannte man das Vormund) in Norddeutschland um Menschen mit Behinderungen kümmert.

Siebke beobachtet eine Art Verzögerungstaktik: „Es kommt selten dazu, dass die Palette der Hilfsangebote ausgebreitet wird. Meist wartet der Amtsschimmel auf ein aktives Streben und setzt stillschweigend voraus, dass Laien nicht alle Angebote und Ansprüche kennen werden“, erzählt er. Oft müsse man hartnäckig bleiben und beständig Widerspruch einlegen, bevor eine Leistung auch zugestanden werde. Das zermürbe.

Hier scheint sich ein stiller Kampf zwischen Ämtern und Trägern abzuspielen: Während Ämter Leistungen und Kosten zu drücken versuchen, bemühen sich Träger um das Gegenteil, und der Mensch mit Behinderung kann derweil nur hoffen, dass am Ende etwas herauskommt, dass für ihn und seine Bedürfnisse halbwegs passt.

„Ich sehe selbstverständlich ein, dass nicht alles bezahlt werden kann, was wünschenswert erscheint“, meint Siebke. Allerdings habe er bei seinen Kontakten zu verschiedenen Ämtern die Erfahrung gemacht, dass die wirtschaftliche Situation der Kommune vorgebe, wie viel Unterstützung jemand bekomme. „Das führt zu unterschiedlichen Behandlungen, also immanentem Unrecht. Das ärgert mich.“

Wer unter dem Sparen an der falschen Stelle leidet, zeigt das Beispiel Jana Ruhland. Die 38-Jährige ist schwer körperlich und geistig beeinträchtigt, kann nur sehr kurze Strecken selbstständig laufen, leidet unter Krampfanfällen. Regelmäßig zu arbeiten, ist Jana nicht möglich.

Auf der Insel Usedom, auf der sie mit ihrem Eltern lebt, ist das Hilfsangebot wie auch andernsorts im ländlichen Raum begrenzt. Mehrere Jahre lang wurde sie mit einer anderen jungen Frau in einer speziellen Fördergruppe betreut. Die Familie zog in die Nähe, baute ein behindertengerechtes Haus. Doch dann wurde die Gruppe von jetzt auf gleich geschlossen, um Kosten zu sparen.

Als wäre das der Probleme nicht genug gewesen, bescheinigte kurz darauf eine Gutachterin, dass für Jana kein Förderbedarf bestehe – in anderen Worten: Sie könne einfach nichts lernen, da brauche man gar nicht erst fördern. „Doch schon der Erhalt bestehender Fähigkeiten ist ein Gewinn“, meint Janas Mutter Christa Ruhland. Dabei habe die Prüferin ihrer Tochter gerade einmal „Hallo“ und „Tschüss“ gesagt und sie sonst kaum angesehen. „Ich hatte den Eindruck, sie ist mit dem Plan zu uns gekommen, uns einzusparen.“

Auf einen Gang vors Gericht verzichtete die Familie – selbst wenn sie gewonnen hätte, hätte es auf der Insel ja immer noch kein Förderangebot gegeben. „Man hat mir gesagt, ich solle mein Kind doch ins Heim geben. Aber das kommt nicht in Frage“, sagt Ruhland. Stattdessen hat die Familie nun privat jemanden organisiert, der sich regelmäßig um Jana kümmert. Das System, von dem sie eigentlich Hilfe erwartet hatte, nennt Ruhland zynisch.

Von einem weiteren Aspekt fehlgeleiteter Sparbemühungen kann Jochen Wolf* erzählen. Er arbeitet in Hamburg bei einem Sozialdienst, der unter anderem Wohnheime für Menschen mit psychischer Behinderung betreibt. Weil auch Hamburg unter den steigenden Kosten leidet, wurde 2014 am System gefeilt. Seitdem bekommen die Träger jedes Jahr ein festes Budget zugewiesen, das sie zur Unterstützung ihrer Klienten einsetzen können. Damit soll der Anreiz genommen werden, den Hilfebedarf bei einzelnen nach oben zu schrauben, um die Gewinne zu vergrößern. Gleichzeitig sei damit aber auch die Motivation genommen worden, die Menschen lange genug bei sich zu halten, meint Wolf.

Gerade bei psychischen Behinderungen, zu denen etwa Depressionen, Angststörungen oder Schizophrenie gehören, wechselt der Unterstützungsbedarf häufiger. Nach der neuen Regelung werde jemand gerne schneller aus einer stationären Einrichtung in die ambulante Hilfe überwiesen, als für ihn gut sei, so Wolf. „Wir sprechen vom Drehtüreffekt. Viele Betroffene landen danach bald wieder in einer stationären Einrichtung. Den Menschen hilft das nicht, und Geld spart man so auch nicht.“

Zwar sieht auch Wolf ein, dass die immer weiter steigenden Kosten ein Problem darstellen. „Den Stein der Weisen, wie man das ändern könnte, habe ich aber noch nicht gefunden.“

Muss er auch nicht. Dafür wird derzeit auf Bundesebene unter Beteiligung von Sozialverbänden, Behindertenvertretern, Trägern und Kommunen vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales ein „Bundesteilhabegesetz“ erarbeitet. Die Hoffnungen sind groß, dass dieses Gesetz alle bestehenden Probleme löst: die explodierenden Kosten, die sich Kranken- und Rentenkassen, Jobcenter und Sozialämter gegenseitig zuzuschieben versuchen. Die schwer durchschaubaren Formulare. Das Dickicht der Träger und die Schwierigkeiten, sie zu kontrollieren. Die Anreize zum Betrug. Die Verschiebung des Fokus vom Menschen, der Hilfe braucht, auf die Kosten, die er verursacht.

Wie genau das Teilhabegesetz diesen hohen Ansprüchen gerecht werden soll, ist noch nicht raus. Bislang gibt es nur allgemein gehaltener Formulierungen, dass Menschen mit Behinderungen individueller unterstützt werden und im Zuge dessen mehr Selbstbestimmung zugestanden bekommen sollen. Zudem soll überprüft werden, ob die Eingliederungshilfen weiter als Sozialhilfen verbucht werden sollen – dieser Aspekt sorgt bislang dafür, dass sich die Empfänger der Hilfen oft einer finanziellen Überprüfung unterziehen müssen, wie sie auch bei Hartz-IV-Empfängern üblich ist, und zudem einen Teil ihres Einkommens an die Sozialkassen abtreten müssen.

Außerdem soll die Zusammenarbeit zwischen Ämtern und Kassen verbessert werden. Dadurch erhofft man sich auch eine effizientere Verwendung des Geldes. Dass der Anstieg der Kosten damit vollständig gedeckelt werden kann, scheint man beim Bund aber nicht zu glauben: Darüber hinaus wird eine Entlastung der Kommunen mit bis zu fünf Milliarden Eu-ro pro Jahr in Aussicht gestellt.

Von einer verstärkten Kontrolle der Träger ist nicht die Rede.

„Wir wollen, dass wieder mehr auf den Menschen geguckt wird“, sagt Ottmar Miles-Paul. Bis 2013 war er Landesbeauftragter für die Belange behinderter Menschen in Rheinland-Pfalz, heute ist er Sprecher der „Kampagne für ein gutes Teilhabegesetz“, die von einer Vielzahl an Behindertenverbänden getragen wird. Ihm schwebt vor, dass jeder nicht nur einen individuellen Plan für seine Teilhabe bekommt, sondern auch ein persönliches Budget, das er dafür frei einsetzen kann. Die Koppelung der Zahlungen an einen vorher festgelegten Träger soll damit aufgehoben werden.

Bislang stehe bei den Eingliederungshilfen im Vordergrund, dass Menschen versorgt würden. Das „Wie“ trete dahinter zurück, meint Miles-Paul. „In ein Heim oder eine Werkstatt zu kommen ist leicht. Doch wer selbstbestimmt leben oder einen Job auf dem regulären Arbeitsmarkt finden möchte, hat es schwer.“ Dabei zeige die Erfahrung, dass gelungene Inklusion nicht nur den Menschen mit Behinderung gut täte und verdeckte Potenziale freilege – „Ich kenne Leute, die doch noch Lesen gelernt oder einen Motorradführerschein gemacht haben, nachdem sie aus dem Werkstattumfeld heraus waren.“ Auf lange Sicht könne so auch Geld gespart werden. „Wer in einer Werkstatt arbeitet, verdient im Bundesschnitt 185 Euro im Monat und ist auf Grundsicherung angewiesen. Wer einen regulären Job hat, zahlt hingegen sogar selbst in das System ein.“

Natürlich kennt auch Miles-Paul die Sorgen angesichts der gestiegenen Kosten. Er glaubt, dass diese durch zu viel bürokratischen Aufwand und komplizierte Zuständigkeiten in die Höhe getrieben würden. „Da ist viel Geld im Topf. Das muss effektiver genutzt werden“, sagt er.

Noch feilen das Ministerium und die diversen Interessenvertreter am Entwurf des Teilhabegesetzes. Im Laufe dieses Jahres solle der Entwurf jedoch vorliegen und das Gesetz 2016 verabschiedet werden, erklärt eine Ministeriumssprecherin.


Die mit * gekennzeichneten Namen wurden auf Wunsch der Gesprächspartner anonymisiert. Sie alle müssen auch in Zukunft noch mit dem System Eingliederungshilfe leben und wollten durch öffentliche Äußerungen keine künftigen Hilfen gefährden.

Dieser Artikel entstand mit Hilfe zahlreicher Krautreporter-Unterstützer, die mir Einblick gewährt haben in ihre persönliche, gesundheitliche, familiäre, berufliche und manchmal auch finanzielle Situation. Nicht alle wollten im Artikel zitiert werden, manche haben einfach wichtige Kontakte hergestellt oder auf zentrale Punkte aufmerksam gemacht. Das war sehr hilfreich und toll. Vielen Dank!